Am 9. November 1938 zündeten Deutsche landesweit Synagogen und andere jüdische Einrichtungen an, verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden. Seit den 90er Jahren organisieren wir als ein Bündnis aus sich als antifaschistisch verstehenden Zusammenhängen und Einzelpersonen um den Jahrestag der Reichspogromnacht den antifaschistischen und antirassistischen Ratschlag, um uns aktuellen Formen des Menschenhasses zu stellen. Der Ratschlag will faschistische Tendenzen in ihren unterschiedlichsten Formen und Ebenen bekämpfen, die Aktiven zusammenbringen und vernetzen sowie Positionen und Strategien im Bereich des Antifaschismus und Antirassismus diskutieren. Dieses Jahr wird der 25. Ratschlag am 6./7. November in Weimar stattfinden.
»Lieber Führer komm heraus, aus dem Elefanten- haus!« — Diesen Slogan konnte man von der jubelnden Menge hören, wenn Adolf Hitler in Weimar zu Besuch war. Weimar war eine frühe Hochburg der Nationalsozialisten, Thüringen war das erste Land mit nationalsozialistischer Regierungsbeteiligung. Und im nahen Konzentrationslager Buchenwald wurden die Vernichtungsphantasien durch die Nazis in die Tat umgesetzt. Am 1. Mai dieses Jahres geriet Weimar erneut in die Schlagzeilen, als Nazis die Maikundgebung des DGB attackierten. Auch wenn viele der beteiligten Rechten nicht aus Weimar kamen, so sind mit dem wegen vorsätzlicher Körperverletzung eines 13-jährigen Jungens verurteilten Michael Fischer und seinem Vater seit Jahren zwei in der Szene umstrittene Nazis in Weimar aktiv. Sie melden rechte Kundgebungen, wie den jährlich stattfinden Trauermarsch, an oder beteiligen sich an überregionalen Nazi-Events.
Zudem leben in den Außenbezirken der Stadt sowie im Weimarer Umland eine größere Menge unorganisierter »Stammtischnazis«, welche eine handfeste Gefahr für Menschen darstellen, die nicht in ihr enges Weltbild passen. Dass sich die von rechter Gewalt (potenziell) Betroffenen nicht immer auf die Polizei verlassen können, zeigen die von drei linken Jugendlichen erhobenen Vorwürfe von Polizeigewalt, die in Weimar vor Gericht verhandelt werden.
Aktuelle Herausforderungen ... — Seit Jahren hat es in Thüringen nicht mehr so große Naziaufmärsche gegeben wie Anfang des Jahres in Suhl. Auf ihrem Höhepunkt brachte die sich auf PEGIDA berufende Thüringer SÜGIDA ca. 1.000 Menschen in Suhl auf die Straße, um gegen Flüchtlinge zu demonstrieren. Der zivilgesellschaftliche und antifaschistische Gegenprotest blieb standhaft, war aber zahlenmäßig dauerhaft unterlegen.Aus SÜGIDA wurde Mitte März THÜGIDA mit wechselnden Aufmarschorten. Die rassistische PEGIDA-Bewegung und ihre Ableger werden beim diesjährigen Ratschlag ebenso Thema sein wie die andauernde Fluchtbewegung aus den Kriegs- und Elendsregionen und die Situation von Geflüchteten in Thüringen.
Der Ratschlag stellt sich gegen menschenfeindliches Denken und Handeln sowie gegen die Verhältnisse, die dieses ermöglichen. Letztere werden von der Extremismusdoktrin, die alle Übel an den politischen Rändern, aber bloß nicht im Wesenskern der Gesellschaftsordnung ausmachen will, verharmlost. Die Gefahr für Menschen durch antisemitische und rassistische Mordbrennerei und ihre Vorstufen besteht nicht in extremistischen Ansichten, sondern in einem Denken, das Menschen anhand ihrer Nützlichkeit für die Produktionsordnung bewertet. Es ist die Einrichtung der bestehenden Gesellschaft, die den Menschen solches Denken und Verhalten nahelegt.
... und menschenfeindliche Verhältnisse — Das Mittelmeer ist längst zu einem Massengrab geworden. Die kapitalistischen Metropolen schotten sich gegen die zu ihnen fliehenden Armen ab, obgleich sie deren Armut mitzuverantworten haben. Jene für die kapitalistische Produktionsordnung Überflüssigen fliehen vor Hunger, Krieg, Umweltkatastrophen oder Armut. Unabhängig von ihren Fluchtgründen werden sie von den die eigene Überflüssigkeit fürchtenden deutschen Einheimischen als »Wirtschaftsflüchtlinge« angefeindet.
SÜGIDA, THÜGIDA und Co. fürchten nicht um die abendländische Kultur, sie fürchten die Konkurrenz und die Armut, die ihnen die Flüchtlinge vor Augen führen und die die eigene Zukunftsperspektive von Kleinfamilie, Eigenheim und sicherer Rente für lebenslange Arbeit bedroht. Dabei bekämpfen sie statt der Armut die Armen und haben eine Gesellschaft im Sinn, in der für wirkliche Solidarität erst recht kein Platz mehr sein soll. Gegen solch extreme Verhältnisse, ihre Befürworter und die, die noch schlimmeres im Sinn haben, wendet sich der antifaschistische und antirassistische Ratschlag. Uns, die Aktiven des Ratschlags in Thüringen, verbindet das Interesse an einer offenen und solidarischen Gesellschaft, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein dürfen. Dass eine solche Gesellschaft nicht erreicht ist, darüber sind wir uns einig, wie wir uns einer solchen Gesellschaft nähern wollen und können, darüber wollen wir streiten.
Spannungsfelder und Schnittstellen antifaschistischer/antirassistischer Praxis — Der Ratschlag will die ganze Breite des Antifaschismus in Thüringen von breiten, pluralen Bürgerbündnissen, Gewerkschaften, Parteien, undogmatischen Linken bis zu linksradikalen Antifa-Gruppen repräsentieren und vernetzen. Dabei streiten wir nicht nur um die Frage der Mittel der politischen Auseinandersetzung, sondern auch um Deutungsansätze, die die Bedrohung durch Nazis in ihren gesellschaftlichen Kontext setzt. Ein breiter Widerstand gegen Naziaufmärsche und -strukturen, Aufklärung, etwa in Form des Abbaus von Vorurteilen, und Menschenrechtsbildung, aber auch das Verständnis von Antisemitismus und Rassismus als notwendige gesellschaftliche Verhältnisse in einer Gesellschaftsordnung, die die Menschenrechte ebenso hervorbringt wie die Möglichkeit ihrer Abschaffung, finden sich auf dem Ratschlag als Positionen. Gemäß jenem Ansatz umfassender Gesellschaftskritik, wie ihn etwa linksradikale Gruppen betreiben, erfordert die nachhaltige Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus die Abschaffung der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise. Unabhängig von den Deutungsansätzen, organisatorischen und theoretischen Hintergründen der verschiedenen Akteurinnen und Akteure des Antifaschismus in Thüringen verbinden uns praktische Bemühungen, etwa zur Eindämmung faschistischer Bewegungen oder zur Schaffung einer humanitären Flüchtlingspolitik und sei es durch geringste Verbesserungen in der Unterbringung, Versorgung oder der Möglichkeit überhaupt nach Thüringen zu gelangen. Der antifaschistische und antirassistische Ratschlag will sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede seiner Akteurinnen und Akteure bewusst machen, diese offen diskutieren und richtet sich darin nicht nur an organisierte Antifaschistinnen und Antifaschisten in Thüringen, sondern an alle interessierten Menschen.
Wer am 6./7. November gemeinsam mit uns diskutieren, sich und andere aufklären und sich mit anderen Aktiven vernetzen möchte, den laden wir herzlich ein, zum 25. antifaschistischen und antirassistischen Ratschlag 2015 nach Weimar zu kommen!